Menschen, Gesellschaften, Moral

Lassen sich Staaten, Staatsformen oder Regierungen mit Menschen vergleichen? Ist es möglich moralische Reifestufen von Menschen zu bestimmen und diese auf Staaten und/oder Regierungsformen anzuwenden? Warum nicht – schließlich ist der Mensch ein Kulturwesen. Erst die Kultur brachte durch Sprache, Überlieferung und Tradition den „Wagenheber Effekt“ hervor, der wiederum den zeitgenössischen Menschen erst ermöglichte.

Zu den kulturellen Errungenschaften zählen auch die politische Gestaltung und die Verteilung von Macht in einer Gesellschaft. Hier also ein Versuch, einen solchen Vergleich anzudenken.

Gemeinsamkeiten und Unterschiede

Die genetischen Unterschiede zwischen Menschen überall auf der Erde betragen etwa 0,1% – Menschen haben also zu 99,9% identische Gene*. Wenn wir uns auch in Körpergröße, Gewicht, Hautfarbe, Nasenform etc. unterscheiden teilen wir doch alle ein einziges genetisches Erbe, das des sog. Homo sapiens sapiens.

Ebenso ähnlich sind sich alle Menschen in ihrer Antriebsstruktur. Bauartbedingt suchen wir nach Selbstwirksamkeit, Bindung, Sexualität, Kontrolle und Orientierung sowie nach Selbstwertschutz und -Erhöhung[1].

Und auch zentrale Bedürfnisse haben alle Menschen dieser Erde gemein: Nahrung, Schutz, Zugehörigkeit, Spiel, Identität u.v.m.[2]

Nun gibt es unzählige Theorien und Systeme, die die Unterschiede zwischen Menschen beschreiben. Solche aus mythischen Zeiten wie astrologische Systeme und solche aus wissenschaftlichen Zeiten wie die „Big Five“**.

Es besteht eine gewisse Einigkeit darin, dass genetische Faktoren mit den Umwelt- und Lebenserfahrungen wechselwirken. Kaum ein Gen alleine bestimmt irgendetwas am Menschen[3] – Gene kooperieren mit der Umwelt[4], ihr Potenzial wird je nachdem mehr oder weniger entfaltet oder gehemmt.

Theorien der menschlichen Entwicklung

>>Die Entwicklung des Einzelwesens vollzieht die Entwicklung der Gattung nach<< Diese Hypothese stammt (sinngemäß formuliert) von dem Mediziner, Zoologen und Philosophen Ernst Haeckel aus dem Jahr 1866. Diese sog. „biogenetische Grundregel“ war von Beginn an umstritten. Nach heutigem Stand war sie nicht gänzlich falsch, allerdings auch nicht uneingeschränkt richtig.

Was Haeckel formulierte unterstützt die Intuition, dass jedes Individuum über die typischen Eigenschaften seiner Gattung verfügt, so, wie sie sich im Laufe der (biologischen) Evolution entwickelt haben. Dass er dabei die gesamte Evolution ins Spiel brachte, war sein Irrtum. Z.B. wies der Anatom Erich Blechschmidt[5] nach, dass ein menschlicher Embryo auch dann ausschließlich menschlich ist, wenn er wie ein Fisch- oder ein Vogelembryo aussieht.

Der Gedanke ist aber seit langem die Grundlage dafür, dass sich an der Entwicklung von Kindern etwas über die Entstehung des zeitgenössischen Menschen lernen lässt. Diesen Weg gingen schon Sigmund Freud für die Psyche, Jean Piaget für die Intelligenz und Lawrence Kohlberg für die Moral. Auch der Anthropologe und Verhaltensforscher Michael Tomasello erforscht den Übergang vom Natur- zum Kulturwesen mit Hilfe der kindlichen Entwicklung, und indem er sie mit anderen Primaten vergleicht.

Der moderne Mensch „Homo sapiens sapiens“ blickt auf eine etwa 100 000 Jahre alte Entwicklungszeit zurück. Michael Tomasello[6] vermutet, dass ökologischer Druck dazu geführt hat, dass sich die Fähigkeit zur Kooperation entwickelte. Zunächst nur für zwei Personen (vor etwa 400.000 Jahren), später dann für ganze Gruppen. Ein entscheidender Schritt dorthin war, die Entwicklung der sog. „Theory of Mind“. Diese besagt, dass Menschen, etwa ab dem fünften Lebensjahr, andere Menschen als Wesen mit einer eigenen Sichtweise auf die Welt erkennen können – der eigenen Perspektive ähnlich und doch verschieden von ihr. Seiner Darstellung nach konnte damit die kulturelle Evolution beginnen[7].

Diese kulturelle Evolution brachte ihrerseits nun weitere kulturelle, technische und geistige Fähigkeiten der Individuen und der Gesellschaften hervor. Rekonstruktionen dieser Entwicklung gibt es von Jean Gebser[8], Günter Dux[9], Peter Sloterdijk[10] u.a. Insbesondere Dux zieht dabei das Entwicklungsmodell der Intelligenz von Jean Piaget heran. Dieses Stufenmodell der geistigen Entwicklung (der Intelligenz) ist heute wesentlich differenzierter, aber in seinen qualitativen Schrittfolgen nach wie vor tauglich.

Drei der vier von Piaget gefundenen Stufen scheinen biologisch codiert zu sein, denn alle Menschen aller Kulturen gelangen zur sog. „konkret operationalen Intelligenz“ (vorausgesetzt, dass die Kindheit hinreichend bekömmlich erlebt werden durfte). Piagets vierte Stufe, die „formal operationale Intelligenz“ benötigt bereits eine intellektuell anregende Umgebung/Kultur während der Kindheit. Für die zeitgenössische Entwicklungspsychologie ist mit dieser „Formal Operativen“ Stufe der Gipfel der intellektuellen Entwicklung erreicht. Wohlgemerkt sind diese Stufen ebenfalls typisch menschlich.

Der Philosoph und spirituelle Lehrer Ken Wilber[11] argumentiert dafür, dass eine weitere Entwicklung möglich ist. Er beschreibt vier weitere Entwicklungsstufen, die durch spirituelle Praxis erklommen werden können. Er stellt in seinen umfangreichen Betrachtungen heraus, dass jede neue Stufe weniger egoistisch sei als die vorhergehende.

Früher als Wilber, aber ebenfalls angelehnt an Piaget, hat die amerikanische Psychologin Jane Loevinger[12] einen Wortergänzungstest entwickelt, anhand dessen sie acht verschiedene Persönlichkeitsmuster gefunden hat (es geht dabei um die Perspektive, wie eine Person sich selbst und die Welt wahrnimmt und interpretiert). Sie orientiert sich an den Entwicklungsschritten der moralischen Entwicklung (Lawrence Kohlberg), in der die Wichtigkeit des Egos ebenfalls mit den weiter entwickelten Stufen abnimmt.

Zum Verständnis des „Egos“ vielleicht noch die Erläuterung, dass zwischen „Status-Ego“ und „Funktions-Ego“ unterschieden werden kann. Das Status-Ego befasst sich mit Geltung und erschwert den Weg der Entwicklung, es wird mit jedem Schritt voran unwichtiger. Das Funktions-Ego hingegen befasst sich mit den eigenen Fähigkeiten und wird mit jedem Schritt stärker.

Was könnte das „Gute“ sein?

Was Michael Tomasello in seiner Arbeit entwickelt hat[13], ist (u.a.) ein Modell der typisch menschlichen „Wir-Bildung“. Dieses „Wir“ entsteht aus der „Interdependenz“ – der wechselseitigen Abhängigkeit aller von allen – dar. Die Gruppe, die Gemeinschaft und in gewisser Weise auch eine Nation bietet eine kulturelle Identität mit verbindlichen Normen, Konventionen und Institutionen und wird so zu einer „Quasi-Person“.

Mit seinen Forschungsergebnissen begründet er, dass Moral am Anfang der Menschwerdung steht. Über die Schritte des Mitgefühls, das sich auch bei anderen Primaten finde, und der Fairness, in Zwei-Personen Beziehungen, formen im nächsten Schritt Gemeinschaften notwendig (!) eine objektive und normative Moral und einen Gerechtigkeitsbegriff.

Ich möchte versuchen, die zeitgenössische Staatengemeinschaft als eine Quasi-Personen-Ansammlung zu begreifen. Verschiedene Quasi-Individuen ringen miteinander um Macht, Ressourcen, Sicherheit und Prestige. Jedes dieser Quasi-Individuen hat eine eigene Geschichte, ein eigenes Verständnis von Objektivität und Moral, eigene Ziele und Absichten.

Meine Hypothese ist, dass sich diese Quasi-Individuen ebenfalls auf verschiedenen Stufen der Moralentwicklung befinden. Und ähnlich wie menschliche Individuen können sie eine Aufwärtsentwicklung vollziehen oder auf eine frühere Stufe zurückfallen.

Um nun die moralische Stufe einer Person oder Quasi-Person überhaupt einschätzen zu können, müsste man sich über die Antwort auf die Frage, >>was denn eigentlich als moralisch „gut“ gelten soll<< halbwegs einig werden. Dazu möchte ich einen wissenschaftlichen Ansatz und einen religiös begründeten Ansatz vorschlagen.

Geistes- und Naturwissenschaftlich möchte ich mich auf Martha Nussbaum,[14] Amartya Sen[15] und Jonathan Haidt beziehen. Sie folgen dem Ansatz, dass es etwas typisch Menschliches (universales) in allen Kulturen gibt. Etwas, das in allen Kulturen gepflegt und geschätzt wird und deshalb als gut und richtig gelten kann. Als Maßstab dienen die „Menschlichen Befähigungen“ – z.B. die Bewusstheit, ein Lebewesen zu sein, körperlich gesund sein zu wollen, Gefühle zu erfahren, kognitive Fähigkeiten zu entwickeln, vertrauen zu können, sich das Gute vorstellen zu können, sich in andere Menschen hineinversetzen zu können, sich mit der ökologischen Welt verbunden zu fühlen und einige mehr.

Jonathan Haidt[16], Psychologe an der New York University, hat eine umfangreiche Forschung zum Thema betrieben und daraus sechs Grunddimensionen einer universalen Moral extrahiert. Diese Dimensionen lassen sich leicht auf Tomasellos Theorie anwenden. Der Punkt 1 entspricht dem grundsätzlichen Mitgefühl. Der Punkt 2 entspricht der Zweipersonalen Moral. Die Punkte 4, 5 und 6 der Gruppenmoral und der Punkt 3 erscheint als die modernste Moralentwicklung.

  1. Fürsorge vs. Schädigung
  2. Fairness vs. Betrug
  3. Freiheit vs. Unterdrückung
  4. Loyalität vs. Verrat
  5. Autorität vs. Subversion
  6. Reinheit vs. Herabsetzung

Die religiös-spirituelle Perspektive bietet das „Welt-Ethos-Projekt“, das von Hans Küng[17] angestoßen wurde. Hier wird die Übereinkunft aller Weltreligionen darin gefunden, dass ein Weltethos sich auf Gewaltlosigkeit, Solidarität und Gerechtigkeit, Toleranz und Wahrhaftigkeit und eine Kultur der Gleichberechtigung von Mann und Frau verpflichten soll. Grundsätzlich soll die „Goldene Regel*“ auf alle Menschen angewendet werden.

Erwähnenswert finde ich auf jeden Fall noch die Forderung von Hans Jonas[18]: „Handle so, dass die Wirkungen deiner Handlung verträglich sind mit der Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden.“

Verhalten, Haltungen und Entwicklungen, die in diese Richtungen gehen, können also mit guten Gründen moralisch höherwertig eingeschätzt werden, als solche, die gegen diese verstoßen.

Acht Kategorien von persönlicher und moralischer Entwicklung

Nun noch einen Blick auf die acht Kategorien von Jane Loevinger für menschliche Personen. Die erste Stufe hat sie „Selbstorientiert“ genannt. Sie beschreibt einen sehr egoistischen Menschen mit einem recht begrenzten geistigen Horizont. Auf der zweiten Stufe, der „Gemeinschaftsbestimmten“ beschreibt sie einen angepassten Menschen, der sich an den angesagten Normen orientiert und darauf achtet, dass sein Image gewahrt bleibt. Beiden gemeinsam ist, dass sie wenig Fähigkeiten zur Selbstreflexion haben.

Als nächstes beschreibt sie die „Rationalistische“ Stufe. Sie orientiert sich tatsächlich rational, sucht also nach guten Gründen und Argumenten für ihre Urteile und Handlungen. Dabei wird auch das Selbst einer Untersuchung zugänglich. Auf der nun folgenden „Eigenbestimmten“ Stufe hat der Mensch durchdachte Werte, Vorstellungen und Ziele entwickelt. Dieser Mensch versucht sich weiter zu entwickeln und akzeptiert Komplexität.

Nun folgt die „Relativierende Stufe“, die Einsicht, dass die eigene Wahrnehmung verantwortlich dafür ist, was ich sehen kann. Auch die Einsicht, dass sowohl die innere als auch die äußere Welt voller Paradoxien und Widersprüche ist. Auf der „Systemischen“ Stufe gelingt es dann, sich und die Welt aus vielen Perspektiven zu sehen. Widersprüche können ausgehalten und integriert werden. Die Offenheit und die Kreativität wachsen weiter an.

Es folgen noch die „Integrierte“ und die „Fließende“ Stufe. Deren Eigenschaften beschreiben eine noch höhere Bewusstheit und einen noch weiteren Horizont. Diese Stufen sind schon bei menschlichen Personen sehr selten zu finden und ich nehme an, dass bestenfalls spirituelle Gemeinschaften diesen Stufen nahekommen können.

Soziale und Politische Theorien

Der Welthistoriker Yuvel Noah Harari[19] stellt dar, dass der „Motor“ der Geschichte aus Imperialismus, Religion und Wissenschaft besteht. Seit der Neolithischen Revolution vor etwa 12.000 Jahren (als die Menschen sesshaft wurden und begannen, Getreide anzubauen und Tier zu züchten) musste das Zusammenleben neu erfunden werden um so vielen Menschen ein Überleben zu gewähren. Es ging darum innere Konflikte zu begrenzen und die Gruppe nach außen beschützen.

Soziologisch betrachtet lassen sich für Gesellschaften sog. Horizontale Unterscheidungen treffen (z.B. Niklas Luhman s.u.), weiter Vertikale Unterscheidungen (z.B. Karl Marx) oder die Unterscheidungen folgen den Handlungs-, bzw. Strukturmerkmalen (z.B. Talcott Parsons, Pierre Bourdieux). Unterlegt ist jede Unterscheidung von kulturellen Errungenschaften und Beständen, die als sozialer Kitt, bzw. Hintergrund gelten können. Sie sind in der Regel traditionsbewahrend und/oder zukunftsorientiert und gelten i.d.R. als fortschrittlich. Die jeweilige Kultur wird als historisch „kontingent“ (es hätte auch anders sein können) betrachtet.

Der Soziologe Niklas Luhmann[20] beschreibt aus einer systemischen Perspektive die Gesellschaftsentwicklung. Für die Urzeit nimmt er sog. „Segmentäre Differenzierungen“ an. Clans und Sippenverbände mit einer überschaubaren Teilnehmerzahl lebten verstreut. Es gibt so etwas wie ein „Wir-Gefühl“, eine Stammestradition, eine Art und Weise, gemeinsam zu überleben. Andere Sippen, waren Andere, nicht unbedingt Feinde oder Gegner, aber Andere.

Die Art, miteinander zu leben, musste nicht weit hergeleitet werden. Wir haben das eben schon immer so gemacht. Jedes neue Gruppenmitglied wächst in die Regeln und Konventionen hinein und hat keinen Grund, sie zu hinterfragen.

Mit der Neolithischen Revolution und dem Anwachsen der Bevölkerungen ergaben sich zwei Arten von Differenzierung. Zum einen die „Zentrum-Peripherie Differenzierung“ – In der Peripherie ging es weiter familiär zu, im Zentrum fand eine Rollendifferenzierung statt, die zu einer „Stratifikatorischen Differenzierung“ (verschieden Schichten, denen höherer oder niedrigerer Status eigen war,) weiterführte.

Die Regierungsformen brauchten nun eine neue Legitimation. Das verbreitetste Modell dafür war wohl „irgendeines Gottes Wille“, bzw. eine „Kosmische Ordnung“.

Mit der Moderne beginnt für Luhmann die „Funktionale Differenzierung“ in verschiedene Gesellschaftssysteme – also Recht, Wirtschaft, Politik, Religion etc. Diese Systeme arbeiten nun nur noch darauf hin, sich selbst zu erzeugen und selbst zu erhalten. Sie sind untereinander „Strukturell Gekoppelt“, was so viel bedeutet, dass ein gewisser Austausch zwischen ihnen stattfindet.

Die modernen Gesellschaften müssen ihre Regierungsformen noch einmal neu legitimieren. Dazu finden sich Spielarten von „Erwählten Völkern“ (und auch Rassen), sowie die Legitimation durch „Vernunft und Freiheit“.

Politische Theorien, bzw. Theorien zu politischer Organisation lassen sich immer noch recht gut mit Aristoteles begreifen. Dieser betrachtete die Herrschaft eines Einzelnen, die einer kleinen Gruppe und die vieler Menschen unter den Gesichtspunkten von Eigennutz – schlechte Version und dem Nutzen für die Allgemeinheit (Gemeinwohl) – gute Version. Spannend hierbei finde ich den Umstand, dass „Demokratie“ für Aristoteles „die Herrschaft des Pöbels“ bedeutete. Die gute und gemeinnützige Form nannte er „Politie“. Ihr Merkmal bestand darin, dass kompetente und verdienstvolle Menschen die Staatsgeschäfte führen sollen.

Hegel brachte die Entwicklung auf den Punkt des „Fortschritts der Freiheit“ – zunächst für einzelne, als Monarchen oder Tyrannen, später für einige, als Oligarchien oder Aristokratien, und noch später für alle, als Demokratien.

Moralische Stufen von Staaten

Der „Demokratieindex“[21] verwendet folgende Kategorien zur Einschätzung der Demokratiequalität von Staaten: den Wahlprozess und Pluralismus, also Regeln der Wahl und Auswahl; die Funktionsweise der Regierung, also inwieweit Abgeordnete und das Parlament mitbestimmen dürfen; die Politische Teilhabe, womit die freie Information der Medien, die auch von Bürger*innen genutzt wird, gemeint ist; die Politische Kultur, ob die Bürger*innen das demokratische System wünschen und stützen; und die Bürgerrechte, also den Schutz der allgemeinen Freiheitsrechte.

Jane Loevinger versuchte zu erforschen, aus welcher Perspektive, eine Person sich selbst und die Welt wahrnimmt und interpretiert. Aus den jeweiligen Perspektiven ergaben sich dann moralische Einstellungen. Auf Staaten angewendet wäre also zu prüfen, wie ein sich Staat selbst wahrnimmt (bzw. ob überhaupt) und wie er sich selbst interpretiert.

Die Selbstwahrnehmung in einem Staatsgebilde findet über öffentliche Diskussionen, parlamentarische Debatten und eine freie Presse statt. Üblicherweise dient als gemeinsamer Hintergrund eine Verfassung, die den Rahmen, die Regeln und die Reichweite der Diskussionen begrenzt.

Die Selbstinterpretation findet sich in Regierungserklärungen (die auch aus Propaganda bestehen können) oder Parteiprogrammen wieder. Auch hier kann eine freie Presse ihre Beiträge leisten um mit den Interpretationen auf der Höhe der Zeit bleiben zu können.

Staaten in denen die freie Rede, politische Vielfalt und freie Presse nicht vorkommen (dürfen) würden dann in etwa der „Selbstorientierten Stufe“ von Loevinger entsprechen. Sie entsprächen in etwa den als „autoritär“ eingestuften Staaten des Demokratieindex.

Staaten in denen freie Rede, politische Vielfalt und freie Presse eingeschränkt vorhanden sind – sogenannte „Hybridsysteme“ entsprächen dann etwa Loevingers Gemeinschaftsbestimmter Stufe – es wird viel Wert auf Konformität gelegt, Individualismus nicht gern gesehen und eine eigene Meinung kann gefährlich werden, denn die Regierung ist auf Gesichtswahrung aus.

Die lange Liste der „Unvollständigen Demokratien“ entsprächen Loevingers Rationalistischer Stufe. Die Einsicht, dass Demokratien einer Gerechtigkeit dann näherkommen, wenn sie für alle gilt, ist vorhanden. Aber die Diskussion darüber, was denn nun als gerecht verstanden wird, bleibt begrenzt.

Die relativ wenigen (22) „Vollständigen Demokratien“ würden dann Loevingers Eigenbestimmter Stufe entsprechen. Diskussionen und Diskurse werden aktuell geführt. Andere Einschätzungen und Meinungen können anerkannt und integriert werden.

Sicher gibt es einige Staaten oder zumindest Staatsmänner und -Frauen, die bereits eine relativierende oder gar systemische Sichtweise auf die politische Situation haben. Staaten, die eine kritische Geschichtsschreibung pflegen, bereit sind, aus Fehlern und Verbrechen der Vergangenheit zu lernen sind möglicherweise auf dem Weg dorthin. Staaten und Politiker*innen, denen bewusst ist, dass eine Kultur auch eine kulturelle Perspektive beinhaltet, die sich von der eigenen Kultur unterscheidet und deshalb zwar anders, aber keinesfalls falsch ist.

Was bleibt, sind Bürger*innen, die diese Sichtweise teilen und fordern müssten und zwar so zahlreich, dass sie zu Staatszielen werden können. Eine Sichtweise auf der „Relativierenden Stufe“ wäre dazu wohl nötig.

Horizont

Nach Michael Tomasellos Theorie steht Moral am Anfang jeder Kultur. Sie erschafft zuerst moralische Personen, die sich vor einem gemeinsamen Hintergrund verpflichtet fühlen, sich selbst und andere unter moralischen Gesichtspunkten beurteilen. Moral ist so der emergente Bezugspunkt, der eine moralische Identität und damit Persönlichkeit ermöglicht.

Dass Gemeinschaften und Staaten eine Moral entwickeln ist also ein universales (allen Menschen gemeinsames) Phänomen, ein anthropologisches Merkmal. Aber die verschiedenen Moralvorstellungen, die sich historisch entwickelt haben, sind nicht mehr universal. Ulrich Beck[22] schlägt den Begriff „Kosmopolitisch“ vor, der in der Lage ist, die Vielfalt im Universalen und das Universale in der Vielfalt zu erfassen.

Damit könnte eine Entwicklung der Quasi-Personen auf diesem Planeten vorgezeichnet werden. Die Entwicklung der Einsicht, dass alle Quasi-Personen sich einen einzigen Planeten teilen müssen. Ein Planet, der nur über begrenzte Ressourcen verfügt, dessen Ökologie die Grundlage des Überlebens aller Quasi-Personen darstellt und die Einsicht, dass alle Quasi-Personen wechselseitig voneinander abhängig sind.

Vor diesem Hintergrund könnte es möglich sein, eine kosmopolitische Moral zu entwickeln, die der Aufgabe jeder Moral gewachsen wäre – innere Konflikte zu befrieden und für ein geschütztes und gedeihliches Leben zu sorgen.

* das ist der aktuelle Forschungsstand des „Human Genom Projekt“

[1] Klaus Grawe: “Neuropsychotherapie” Hogrefe, Bern 2004

** Big Five ist der Name des populärsten und am besten erforschten Inventars der Persönlichkeit

[2] Martha C. Nussbaum: “Gerechtigkeit oder das gute Leben – Gender studies“

[3] Robert Sapolsky: „Gewalt und Mitgefühl“ Hanser, München 2017

[4] Joachim Bauer: „Das kooperative Gen“ Heyne, München 2010

[5] Erich Blechschmidt: „Wie beginnt das menschliche Leben“ Christiana, Stein am Rhein 2002;

[6] Michael Tomasello: „Eine Naturgeschichte des Menschlichen Denkens“ Suhrkamp, Berlin 2014

[7] Michael Tomasello: „Die kulturelle Entwicklung des menschlichen Denkens“ Suhrkamp, 2002 Frankfurt/Main

[8] Jean Gebser: „Ursprung und Gegenwart“ dtv, München 1986

[9] Günter Dux: „Historisch-genetische Theorie der Kultur“ Velbrück, Weilerswist 2005

[10] Peter Sloterdijk: „Sphären I“ Suhrkamp, Berlin 1998

[11] Ken Wilber: „Spektrum des Bewusstseins“ Rohwohlt, Hamburg 1998

[12] Ich verdanke die Kenntnis von Jane Loevinger der Diplom Arbeit in Psychologie an der Uni Wien von Patrick Wolf: „Ich-Explorationen“

[13] Michael Tomasello: „Eine Naturgeschichte der Moral“ Suhrkamp Berlin 2016

[14] Martha C. Nussbaum: “Gerechtigkeit oder das gute Leben – Gender studies“ Suhrkamp, Frankfurt/M 2018

[15] Amartya Sen: „Die Idee der Gerechtigkeit“ dtv, München 2017

[16] aus: Robert Sapolsky: „Gewalt und Mitgefühl“ Hanser, München 2017

* Was du nicht willst, das man dir tu‘, das füg auch keinem andern zu.

[17] Hans Küng (Hg.) „Ja zum Weltethos“ Piper, München 1995

[18] Hans Jonas: „Das Prinzip Verantwortung“ Insel, Frankfurt 1986

[19] Yuval Noah Harari: „Eine kurze Geschichte der Menschheit“ Pantheon, München 2015

[20] Niklas Luhman: „Die Gesellschaft der Gesellschaft“ Suhrkamp, Frankfurt/M 1997

[21] https://de.wikipedia.org/wiki/Demokratieindex

[22] Ulrich Beck: „Weltrisikogesellschaft“ Suhrkamp, Frankfurt/Main 2008