Spaziergang

Wenn ich zu mir selbst zurück finden will, dann gehe ich auf den Wegen in der mir vertrauten Landschaft spazieren. Die Wege führen fast immer in den Wald. Über die Straße mit dem vielen Verkehr oder über die Brücke über den kleinen Fluss und dann hinauf und hinein in den Wald.
Manchmal dauert es eine Weile bis ich merke, dass ich schon angekommen bin, dass der Wald mich jetzt umgibt. Öfter begrüßt er mich gleich an seinem Saum. Dort haucht er mir seinen würzigen Atem in die Nase, zwinkert sein Zwielicht mir zu und ich höre die Zweige geheimnisvoll flüstern.
Früher oder später bleibe ich stehen. Ich atme tief durch und entspanne mich in der freundlichen Gleichgültigkeit, auf der ich stehe, die mich umgibt und beschattet.
Dann kann ich meinen Gedanken förmlich zusehen. Dem endlosen Geplapper meiner Sorgen und Hoffnungen, meiner Projekte, Aufgaben und Herausforderungen, meiner Grenzen und Widerstände.
Ich gehe weiter und schaue zu, wie mein Ärger, meine Enttäuschung und mein Trotz miteinander tanzen, wie mein Stolz den Taktstock schwingt und meine Angst alles beschwichtigen möchte.
Ich freue mich immer, wenn ich an einen Bach komme und manchmal trinke ich von dem Geschenk. Im Sommer kühle ich mir die Pulse und den Kopf; im Herbst halte ich nach Pilzen Ausschau; im Winter höre ich dem Plätschern und Glucksen zu und im Frühling suche ich Kräuter.
Spätestens am Bach finde ich meine Liebe wieder, traue ich mich, meine Liebe zu spüren – dann kommen mir manchmal die Tränen.
In meinem Wald gibt es viel Pfade, Wege, Abzweigungen – ich kenne die allermeisten, bin auf fast allen spazieren gegangen und manchmal habe ich sie verlassen und mich einfach quer durchs Gelände geschlagen.
Irgendwann öffnen sich meine Sinne weiter. Ich höre Vogelstimmen, rieche vermodertes Holz, sehe einen Eichelhäher – dann lausche, schmecke und schaue ich einfach nur noch und erspare mir, alles mit einem Namen zu benennen.
Ganz, ganz selten habe ich das Gefühl, dass ich auch bemerkt werde. Wenn die kleinen Vögel nicht mehr vor mir weg fliegen, wenn ein Eichhörnchen auf einem Zweig verharrt und mich neugierig mustert, dann habe ich auch den Eindruck, dass die Zweige nicht nur miteinander flüstern.
Wenn ich dann an eine Weggabelung komme, erkenne ich sofort meinen Weg.
Am Anfang führt er meistens bergauf. Ich kenne eine Menge schöner Plätze dort oben im Wald. Es war schön, sie zu entdecken und es ist schön, zu ihnen zurück zu kehren, zu den immer gleichen Orten, die jedes Mal so anders sind.
Je weiter ich nach oben komme, desto wilder wird der Wald. Völlig hemmungslos und lebensgierig wächst und wuchert jedes Kraut, bedecken Moose jeden freien Fleck und die jungen Bäume stehen so dicht, dass mir nur der Pfad bleibt.
Ganz oben weht meistens ein anderer Wind – meistens stärker. Im Frühling bringt er Blütenduft mit sich und im Sommer Kühlung. Im Herbst bläst er den Nebel aus dem Tal herauf und im Winter muss ich die Kapuze fester schließen.
Die Windgrenze ist auch eine Grenze zwischen zwei Tälern. Der Weg über den Kamm führt durch einen Feen Wald mit krummen Bäumen und hohen Gräsern, die im Wind tanzen. Brombeerranken tasten blind nach mir und es wimmelt nur so von Fliegen, Bienen, Käfern, Mücken, Schmetterlingen und Ameisen. Durch das verfilzte Unterholz rascheln die Mäuse und Blindschleichen und den klagend, langgezogenen Ruf eines Bussards empfinde ich als Willkommensgruß.
Hier oben reiht sich Kamm an Kamm. Ich könnte noch ziemlich lange weiter gehen und manchmal mache ich das auch. An einem meiner Lieblingsplätze mache ich gerne Pause. Ich setze mich auf einen kleinen Felsen, der mit blassgrünen und gelben Flechten bewachsen ist. Er bildet eine kleine Sitzfläche, die mir eine weite Aussicht gewährt. Bewaldete Berge, Wiesen, Höfe und Häuser, Wege und Straßen, Windräder und gar nicht fern, das große Flusstal, das die Grenze des Gebirges ist. Ich sitze auf dem Rand meiner kleinen Welt, schaue hinab und hinüber, schließe die Augen und genieße den Moment.
Auf dem Rückweg schleichen sich die Gedanken wieder an. Leise zunächst und langsamer als zu Beginn. Einige haben sich verändert, haben miteinander die Plätze getauscht, wurden unwichtiger oder verlangen jetzt mehr Aufmerksamkeit. Oft ist ein neuer Gedanke dabei, manchmal eine richtig gute Idee und wenn ich viel Glück habe, sogar ein Gedicht.
Je weiter ich hinunter komme, desto lauter werden auch wieder die Geräusche der Stadt – Autos vor allem, ab und zu ein Zug, manchmal ein Fußballspiel. Fast schon am Waldrand begegne ich auch wieder anderen Spaziergängern – so Einzelne wie mich, aber auch Paare, Gruppen und Familien. Ich grüße alle freundlich und werde ebenso freundlich zurück gegrüßt.
Dann verlasse ich meinen Wald, betrete wieder geteerte Straßen und habe ihn doch noch in mir. Ich kann eine gute Woche von ihm zehren, bis ich wieder zurückkommen werde.